Wir sind für unser inneres Erleben verantwortlich.

Beziehung im Wandel

Trauma entsteht im Wesentlichen in den Familien. Der Zeitraum, der hierfür besonders sensibel ist, liegt in den ersten zwei bis vier Lebensjahren eines Kindes. Entwicklungstraumatische Strukturen bilden sich jedoch grundsätzlich im Laufe der gesamten Entwicklungszeit von mindestens 21 Jahren, einschließlich der allerersten Entwicklungsphase, der Schwangerschaft. Da in unserer Gesellschaft nahezu alle Menschen mehr oder weniger schwerwiegende entwicklungstraumatische Belastungen mit sich tragen und traumatisierte Eltern zwangsläufig bei ihren eigenen Kindern Entwicklungstraumen erzeugen, ist es von zentraler Bedeutung, sich als Vater und Mutter auf den Weg zu machen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, der bereits seit unzähligen Generationen besteht. Es liegt in unserer Hand, dafür zu sorgen, dass unsere Kinder einen sicheren Raum vorfinden, der Wachstum ermöglicht und der ihre Integrität als junge, schutzbedürftige Menschenwesen wahrt.

 

Traumwelt

Unsere Gesellschaft lebt in einer kollektiven Traumwelt, die aus Kindheit-Echos besteht. Das zeigt sich darin dass die meisten Menschen in anderen Menschen grundsätzlich eine Gefahrenquelle sehen und sich selbst als hilflos erleben, wenn es darum geht, ihre Lebenssituation selbstbestimmt und mit Freude zu gestalten. Denn das wäre eigentlich der Normalzustand: dass wir unser Leben, Kontakte zu unseren Mitmenschen, die Welt, die wir erleben, als etwas Sinnhaftes und Nährendes wahrnehmen, als etwas, das wir selbst gestalten können. Unsere traumabedingte „Traumwelt“ zeigt sich auch in den Ablenkungen, die wir ständig suchen: Konflikte, Getriebenheit und Unruhe, Leistungs- oder Erfolgswahn, Überarbeitung, Sinnlosigkeit und Langeweile, chronische körperliche Symptome, Resignation und Depressionen, Störungen im Ernährungsverhalten und ein Konsumverhalten, das nicht zu unseren wahren Bedürfnissen passt – all dies sind Mechanismen traumatisierter Nervensysteme, um zu kompensieren, was an innerer Not in den Tiefen unseres Bewusstseins auf Befreiung wartet. Denn unser nicht-bewusster Teil unseres Nervensystems unterliegt einer folgenschweren Fehlannahme.

 

Hin und weg

Das Nervensystem eines Kindes befindet sich bereits im Mutterleib und von der Geburt bis zu seiner Ausreifung jenseits des 20. Lebensjahres in einem Prozess von Vernetzung, Plastizität und Wirklichkeitsorientierung durch aktives Erleben. Dieser Prozess folgt einem im Kind angelegten Bauplan und basiert grundsätzlich auf seiner autonomen Impuls- und Entscheidungsfähigkeit. Der Organismus will selbstständig werden und ist es in mancher Hinsicht sogar schon von Beginn an: In seinem Selbst-Hervorbringen durch selbstgesteuertes Erkunden seiner Welt! Daher ist Autonomie von Anfang an ein grundlegendes Bedürfnis und eine Kerneigenschaft eines jeden Kindes. Die biologische Urbewegung, die im Autonomiebedürfnis sichtbar wird, ist die Wegbewegung. Diese finden wir als einen von zwei Polen bereits bei den frühesten und einfachsten Lebensformen. Die Wegbewegung von den Eltern ist von der Zeugung an die grundlegende Ausrichtung im großen Entwicklungsbogen zum Erwachsenenalter hin. Wird sie künstlich gebremst oder erzwungen, so entsteht Leid beim Kind.

 

Verbindung

Und die Hinbewegung? Diese der Wegbewegung entgegengesetzte Polarität entspricht in der Welt eines Kindes der Verbindung zu seinen Eltern. Die Verbindungsqualität der Hinbewegung hat wie die Wegbewegung ihren Ursprungsmoment in der Zeugung: Die liebevolle Vereinigung von Frau und Mann mit der Verschmelzung in Begegnung von Ei- und Samenzelle bildet den Ur-Impuls des neuen Lebens und gleichzeitig der Verbindungsqualität in der inneren Ausrichtung des Kindes. Interessanterweise wird hier eine Dreiheit als tragende Lebensgrundlage im Sinne eines Verbunden-Seins von Mutter, Vater und Kind angelegt. Die Mutter-Vater-Verbindung ist in jeder Körperzelle des Kindes repräsentiert und die bedingungslose Zusammengehörigkeit als harmonischer Zweiklang, der durch die Persönlichkeit des Kindes zum harmonischen Dreiklang erweitert wird, ist für die kindliche Seele eine Grundbedingung für ihr ungestörtes Wachstum. Aufgrund des unbewusst vorhandenen Wissens des Kindes, dass seine Existenz vom Verbundensein mit seinen Eltern sowie von ihrer Umsorgung und Versorgung abhängt (denn ohne die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse durch seine Eltern würde das Kind sterben), empfindet das Kind alles, was diesen Dreiklang der harmonischen – und damit sicheren – Verbundenheit in Frage stellt, als akute Bedrohung seines Lebens.

 

Beide Pole zugleich – Grundbedürfnisse

Doch was sind die wesentlichen Bestandteile dieser Umsorgung eines Kindes, wenn beide Aspekte – Autonomie und Verbindung – Platz haben sollen? Der Schlüssel liegt im Sowohl-als-auch und in einem sicheren Raum durch echte Präsenz. Obwohl man meinen könnte, dass die beiden Bewegungsrichtungen Hin und Weg im Widerstreit stehen, so ist dies gerade nicht der Fall – sie bedingen sich sogar gegenseitig. Nur wenn ein Kind eine verlässliche Verbindung spürt, kann es sich voll und ganz seiner selbstständigen Entwicklungsarbeit widmen. Nur wenn das Kind die freilassende und wiederum unabhängige Grundhaltung seiner Eltern erlebt, kann die Energie durch den Kanal der Verbundenheit ungestört fließen. Es entsteht ein Grundgefühl von Freiheit und innerer Sicherheit. Es ist also von wesentlicher Bedeutung, dass wir als Eltern zum einen unserem Kind gegenüber bedingungslose Annahme und Verbundenheit entgegenbringen und seine Grundbedürfnisse, die es sich nicht selbst erfüllen kann, stillen. Das sind Nahrung, Schutz, achtsame Pflege und einfühlsame Nähe sowie ein geborgenes Nest, das alle wichtigen Elemente für eine selbstbestimmte Entwicklung einschließlich klarer und respektvoller Grenzen und aufmerksamer Präsenz bereithält.

Zum anderen benötigt unser Kind von uns Eltern, dass wir seine Autonomie respektieren und unterscheiden können zwischen unseren eigenen Gefühlen und Regungen und der Persönlichkeit unseres Kindes mit ihren Prozessen. Sobald wir den Impuls haben, beim Kind etwas zu bewirken, seine Gefühle und Gedanken zu beeinflussen, Schmerz und Frustration, die zu einer angemessenen Entwicklung ein Stück weit dazugehören, zu vermeiden, wenn wir gewissermaßen seine Erfahrungen so erleben, als wären wir es, die sich gerade das Knie aufschlagen, wenn wir Regungen wie Wut, Hass, Trauer oder Lebendigkeit unterdrücken wollen, wird sich unser Kind in seiner Eigenständigkeit verletzt fühlen. Da es aber mit beiden Füßen auf unserem elterlichen Fundament steht, kann es sich gegenüber einer solchen Beeinflussung nicht abgrenzen – stattdessen wird es nun aufhören, ganz es selbst zu sein. Es wird die Teile seines Seelenlebens unterdrücken und abspalten, die im Gefühlsraum der Eltern keine Daseinsberechtigung haben und wird beginnen, Kompensations- und somit Überlebensstrategien zu entwickeln. Je nachdem, in welcher Entwicklungsphase solche Verunsicherungen vorwiegend auftauchen und an welcher Stelle das Kind eine Verletzung des harmonischen Dreiklangs erlebt – eher durch eine Störung im Verbindungsbereich (verlassen werden, nicht präsent sein, ignoriert werden) oder im Automiebereich (subtile oder explizite Übergriffigkeit, Manipulation, Gewalt) – wählt das Kind bestimmte Strategien und bildet innere Schablonen zum Umgang mit Beziehungen und der Welt aus, die es später auf alles und jedes übertragen wird und die seine Interpretation und Wahrnehmung der Wirklichkeit in den meisten Fällen ein Leben lang prägen werden.

Das Missverständnis unseres Nervensystems: Die als Kind in der Bindungsbeziehung zu den Eltern erlebte innere Not wird im Erwachsenenleben immer wieder neu konstruiert, indem Kontakt zu anderen Mensch als gefährlich eingestuft wird.

Das große Missverständnis

Dass unser Nervensystem unsere grundlegenden Beziehungserfahrungen während unserer Kindheit als Blaupause für das spätere Erwachsenen Leben benutzt und wir uns dessen in aller Regel nicht bewusst sind, liegt an der Entstehungsgeschichte unserer Nervensysteme im Laufe der letzten (bis zu) 635 Millionen Jahre. Vereinfacht gesagt, besteht unser Gehirn aus drei ziemlich unterschiedlich aufgebauten Subsystemen, die hintereinander entstanden sind. Der älteste Teil, der vor 200 Millionen Jahren, als die ersten Säugetiere entstanden, bereits in sehr ähnlicher Form existierte, ist unser autonomes Nervensystem, das in seiner Architektur ganz und gar den Überlebensmechanismen dienend ausgerichtet ist. Auf seine Funktion hat unser Bewusstsein so gut wie keinen Einfluss. Doch gerade dieser Teil unseres Nervensystems produziert bei früh traumatisierten Menschen den größten Stress, er fungiert dann als eine Art Radaranlage und scannt die Umgebung nach strukturell ähnlichen Situationen im Vergleich zur damals während der Traumatisierung erfahrenen (lebensbedrohlichen) Wirklichkeit ab. Unser Radarsystem warnt uns nun durch körperlich (somatisch) spürbare Stressempfindungen.

Das erst während der Mamalierepoche entstandene limbische System, das zweitälteste Subsystem unseres Nervensystems, das sich vorwiegend um Emotionen und damit um soziale Aspekte unseres Daseins kümmert, wird aufgrund dieser Warnsignale mit aktiviert. Da unser erwachsener Verstand, der der entwicklungsgeschichtlich jüngste Teil des Nervensystems ist und der im Grunde einen Widerspruch dieser Signale zur tatsächlichen Situation sehen müsste, ein in sich stimmiges Wirklichkeitserleben erzeugen will, wird er nun nach guten Gründen für diese Warnsignale suchen – und er findet sie: ob im Partner, im Chef, im eigenen Kind, in der Regierung – in der Regel tritt diese Übertragung in jedem zwischenmenschlichen Kontakt mehr oder weniger deutlich zutage.

Alleine aufgrund dieses Effekts, der auf einem Missverständnis unseres autonomen Nervensystems beruht, leiden die meisten von uns ein Leben lang an den Folgen instabiler Beziehungserfahrungen am Beginn ihres Lebens – ohne es zu wissen. Die Fehlannahme des Nervensystems besagt, dass unsere Umgebung – namentlich unsere Mitmenschen – unsere Integrität heute noch ebenso bedrohen, wie wir es in unserer Kindheit erlebt haben. Damals war es für uns tatsächlich eine Gefahr. So geht es also nun darum, uns zu entspannen und unser Nervensystem lernen zu lassen, dass die Situation heute prinzipiell sicher ist und wir ohne Not unser Leben gestalten und für unser Wohlbefinden sorgen können.